10.11.2017
Eigentlich gibt es ja keinen Grund mehr, sich den Grand Prix in Interlagos anzuschauen: Die WM ist entschieden, weit und breit ist keine Spannung mehr in Sicht. Doch ein kleines Detail sollte Sie dennoch alle vor den Fernseher ziehen: Es ist das letzte Heimrennen von Felipe Massa.
Im Alter von 36 Jahren hat der Williams-Fahrer sich zum Rücktritt entschieden. Zum zweiten Mal schon, denn eigentlich hätte er dieses Jahr schon gar nicht mehr starten wollen. Doch dann trat Nico Rosberg als Weltmeister Knall auf Fall zurück, Mercedes warb Valtteri Bottas als Rosbergs Nachfolger von Williams ab – und Massa hängte als Lückenfüller noch ein Jahr dran.
Viel mehr als ein Lückenfüller war er denn auch wirklich nicht. Und irgendwie steht die ganze Laufbahn des Paulista unter einer dunklen Wolke des eines Unter-„ferner-liefen“-Fahrers. Er hat nicht mal Perspektiven für ein Engagement in einer anderen Rennserie: Verantwortliche im DTM halten ihn nach eigenem Bekunden „nicht für eine Bereicherung“, auch in der Sportwagen-WM kursiert sein Name nicht für einen Platz im kommenden Jahr. Selbst die IndyCar-Serie in den USA, die traditionell ein Auffangbecken für ausgemusterte oder abgehalfterte Grand Prix-Piloten darstellt, scheint kein Hafen für Massa zu werden. Obwohl das dortige Team von Chip Ganassi gerade ein Cockpit neu besetzen muss: Eigentlich hätte Porsches Sportwagen-Weltmeister Brendon Hartley nach dem WM-Ausstieg der Schwaben bei Ganassi anheuern sollen. Doch jetzt sieht es so aus, als lande der gewitzte Kiwi 2018 einen vollwertigen Sitz bei Toro Rosso unter der Regie des demagogischen Teamchefs Franz Tost.
Für Masa ist das ebenso schade wie symptomatisch. Denn er galt schon immer als ein zu weiches Gemüt, für das Haifischbecken Formel 1 eigentlich eine Spur zu nett und nicht ellenbogentüchtig genug.
Doch das täuscht. Hinter der sanften Fassade verbirgt sich ein zähes Männlein mit großem Willen und hoher Opferbereitschaft. Dafür spricht allein schon die Methode, wie er sich in die Königsklasse antichambriert hat. In jungen Jahren fuhr er in Brasilien Nachwuchsformelrennen; parallel verdingte er sich in seiner Heimatstadt São Paulo als Fahrer für einen Fertiggerichtauslieferungsservice.
Wer in der brasilianischen Megametropole schon mal selbst Auto gefahren ist wie wir alljährlich in unseren Mietwagen zwischen Flughafen, Hotel und Rennstrecke, der weiß: Bei den chaotischen Straßenverhältnissen in São Paulo ist allein das Qualitätsausweis genug.
Jedenfalls war sein Arbeitgeber 1998 und 1999 als Lieferant für die Teamverpflegung des Benetton-Formel 1-Teams zuständig, und Massa brachte das Essen ins Fahrerlager. Dort wanzte er sich an das Teammanagement heran, um sich Tipps und Hilfestellung zu holen, wie er es aus der florierenden, aber dennoch regional begrenzten brasilianischen Szene hinauf auf eine Schiene zur Formel 1 schaffen könne. Selten hat jemand seinen Ferienjob so gut genutzt wie Massa – denn die insistierenden Fragen brachten ihm nicht nur die richtigen Hinweise, sondern auch eine direkte Beobachtung durch die Entscheider in der Formel 1-Gemeinde, sodass seine Leistungen in den Nachwuchsserien in Europa letztlich zu einem Aufstieg in die Königsklasse führten.
Dort arbeitete er sich bis zum Vasallen für Michael Schumacher bei Ferrari hoch – und war einer derjenigen Teamkollegen, die dem Deutschen rundenzeitenmäßig am nächsten kamen. Doch der Nichtangriffspakt und die Vorzugsbehandlung, die Schumacher sich in den Vertrag hatte schreiben lassen, stempelten Massa unweigerlich zum ewigen Zweiten ab. Dass das nicht seinem wahren Können entsprach, zeigt das Jahr 2008, als er nur um Sekunden am WM-Titel vorbeischrammte – in einem Regenkrimi, in dem Lewis Hamilton in der letzten Viertelrunde den Titelrennspieß noch umdrehte.
Wer Massa immer noch belächelt, sollte sich nur mal seine Leistungen in jener Saison vor neun Jahren vor Augen halten. Natürlich kann man argumentieren, er sei jetzt mindestens um ein, wenn nicht gar um drei Jahre zu spät zurückgetreten. In der Tat hat er den Zenit seines Könnens überschritten. Aber es gibt nur wenige Formel 1-Piloten, die – vor lauter Rausch am Fahren der schnellsten und aufregendsten Autos der Welt – den passenden Zeitpunkt für ihren Rücktritt finden.
Wenn Massa geht, hat Brasilien auf absehbare Zeit keinen Formel 1-Fahrer mehr. Allein das wird schon dafür sorgen, dass der Abschied des Teddybären im Rennfahreroverall zu einer höchst emotionalen Angelegenheit wird. In Interlagos herrscht ohnehin schon alljährlich die fußballstadionähnlichste Stimmung von allen Grands Prix. Sonntagabend wird der Hexenkessel überkochen, und es werden auch reihenweise Tränen fließen. Allein diese für die Formel 1 eigentlich unbekannte Emotionalität lohnt das Einschalten. Und alle, die vor Ort sind, werden von ihr mitgerissen und sicher ebenfalls ein Tränchen im Augenwinkel verdrücken.
Ich hoffe, dass Massa mir später noch mal in einem anderen Fahrerlager begegnet. Denn der Brasilianer ist der beste Beweis dafür, dass man es selbst in der brutalen Formel 1 noch mit Anstand und Freundlichkeit zu was bringen kann. Und das allein gehört schon belohnt – mit einem schönen Follow-up-Vertrag.