10.01.2021
Die Inventur fällt vernichtend aus. 13 Reifenschäden hätte er jetzt schon gehabt, bilanzierte Giniel de Villiers im Ziel der Sonntagsetappe, allein vier davon auf der gerade zurückgelegten Wertungsprüfung.
Der Südafrikaner ist eigentlich die Ausgeglichenheit in Person. Auch jetzt schluckt er seinen Ärger runter, spricht irgendwas von really difficult – aber man merkt, wie die Lage an ihm nagt. Er hat sogar auf den Toyota-Privatfahrer Benediktas Vanagas aus Litauen warten müssen. Der Balte gab ihm einen Ersatzreifen von der Ladefläche seines Overdrive-Hilux, sonst hätte de Villiers das Schicksal seines Landsmannes Brian Baragwanath geteilt: eine Schleichfahrt mit waidwundem Auto durch die Dunkelheit der Dünen, eine Ankunft im Biwak der Marathonetappe weit nach Mitternacht.
Da auch de Villiers' Teamkollege Nasser Al-Attiyah einen Plattfuß hatte, gab Teamchef Glyn Hall unumwunden zu, man verstehe nicht, was mit den Reifen und den Felsen passiere.
Und das schon seit einem Jahr.
Denn bereits bei der Rallye Dakar 2021 hatten die Allradler reihenweise Reifenschäden, mal echte Platzer, mal schleichende Plattfüße. Michelin hat seitdem einen neuen Reifentyp mit härterer Flanke nachgelegt, der vor allem in der Kalahari-Wüste und in Namibia getestet wurde. Doch schon dort hat sich rauskristallisiert: Auch die neue Konstruktion ist kein nennenswerter Fortschritt.
Erschwerend kommt hinzu: Michelin hat nur 150 Reifen produzieren können, wegen Corona war nicht mehr Kapazität drin. Das ist kein neues Problem für die Franzosen: Auch beim 24-Stundenrennen auf dem Nürburgring 2020 gab es nicht von allen Regenreifen genug Exemplare für alle Kundenwünsche. Für das Toyota-Großaufgebot bei der Rallye Dakar, das aus Hallspeed und den Kunden von Overdrive aus Belgien besteht, bräuchte man mindestens 300 Reifen, wollte man jeden Tag jeden Pritschenwagen mit der neuen Generation ausrüsten.
Die Rechnung geht also schon von vornherein nicht auf, weil Michelin Produktions- und Lieferengpässe hat.
De Villiers hat deswegen auf die neue Variante verzichtet, schon vor der Rallye – weil er als einer der Haupttestfahrer aus dem Sommer nicht überzeugt war, dass sie etwas bringe. Seit Henk Lategan und Bernhard ten Brinke jeweils mit spektakulären Überschlagen ausgeschieden sind, kann man das Kontingent der ihnen zugedachten neuen Pneus zwar teamintern mitnutzen und anders verteilen. Doch weil auch Al-Attiyah jeden Tag einen Reifenschaden hat, scheinen zwei Thesen zu stimmen: Die von Hall, es liege nicht am Auto, und die von de Villiers, die neue Konstruktion sei kein Fortschritt.
Auf dem ersten Teil der Marathonetappe war das Geläuf zudem wieder deutlich rauer als am Vorabend vom Veranstalter bei der Fahrerbesprechung angekündigt. Die Fahrer und Ingenieure legen bei ihrer Abstimmung aber die Infos der Rallyeleitung zugrunde – und so etwa den Reifenluftdruck fest, mit dem sie in die Prüfung fahren. Je mehr Sandwüste, desto niedriger.
Wenn die Ausgangslage falsch angenommen wird und die Reifen nicht stabild genug sind – dann ist das eine Killerkombination.
Vor allem killt sie die Spannung im Kampf um den Gesamtsieg. Denn in der zweiten Woche stehen spätestens ab Dienstag wieder Etappen auf rauen, groben Steinen an. Da braucht man einen Vorrat von neuen Reifen, um wenigstens ein Fünkchen Hoffnung zu behalten, ohne reihenweise Plattfüße durchs schroffe Gelände zu kommen.
Doch wenn man schon an Tagen wie heute, wo das eigentlich nicht zu erwarten stand, reihenweise Reifen aufbraucht – dann ist der Vorrat irgendwann weggepafft. Und zwar genau dann, wenn er am dringendsten benötigt werden würde.
So weit in die Zukunft mochte de Villiers am Abend gar nicht gucken. Er hoffte zunächst, dass der T4-Servicetruck genug Ersatzreifen geladen hatte. Denn einen ganzen Tag ohne Reserveräder, schnaufte der Stellenboscher – das werde hart.