+++ 2024-08-29 19:14 : Blog – warum will niemand Mick Schumacher? +++ 2024-08-18 11:14 : Blog – der unsinnigste Vergleich des Jahres +++ 2024-08-08 17:24 : Podcast – Erinnerungen an Speedwaystar Tommy Dunker. Interview von Norbert Ockenga mit Weggefährte und Rivale André Pollehn +++
BACK

17.07.2023

Der Fall Ricciardo


Manchmal muss man weit reisen, um auf das Naheliegende zu kommen. Als die Formel E noch relativ jung war und mit Autos ihrer sogenannten Ersten Generation fuhr, führte der Weg zu einem Meisterschaftslauf der Elektroautos nach Mexiko-Stadt. Damals arbeiteten jede Menge ehemalige Formel 1- und Formel 3-Techniker in den Boxen der Stromrennserie. Einer davon kannte Nyck de Vries recht gut – und urteilte über den Friesen aus den Niederlanden, dem fehle die geistige Kapazität, um es an die absolute Weltspitze zu schaffen.

Ehrlich gesagt, verwendete der Informant keine so geschliffene Formulierung, sondern durchaus drastischeres und derberes Vokabular.

Jetzt, ein Formel E-Titel, eine Coronakrise und eine Weltwirtschafskrise später, ist das Orakel des Informanten wahr geworden: de Vries hat vor dem Großen Preis von Ungarn seinen Platz bei Alpha Tauri, dem B-Team von Red Bull, verloren. Nach gerade mal 10 Rennen in der Königsklasse.

Eine Woge der Empörung wogte durch die Medien, als die Entscheidung von Red Bull-Motorsportchef Dr. Helmut Marko in der Woche nach dem letzten Rennen in Silverstone bekannt wurde – angefacht vom Management des Niederländers, das die größte heimische Tageszeitung informierte, Tage bevor Red Bull den Wechsel eigentlich bekanntmachen wollte.

Jetzt sitzt Daniel Ricciardo wieder am Steuer eines Red Bull, wenn auch nur des B-Modells. Der Australier aus Perth hat mit der Formel 1 noch eine Rechnung auf. Denn er ist einst als Toptalent zum A-Team an die Seite von Sebastian Vettel befördert worden – und hat den viermaligen Weltmeister im stallinternen Duell gleich mal entzaubert. Danach ging Ricciardo zu zwei anderen Teams, bei jedem musste er wegen der Grundkonzeption der Autos seinen einzigartigen Fahrstil so sehr verwässern, dass er nicht mehr schnell genug fahren konnte: Ricciardo ist ein Meister des Ultraspät- und dafür unheimlich hart Bremsens. Und anders als etwa Lewis Hamilton oder früher Nico Rosberg, beherrscht der Australier diese Technik auch dann noch, wenn er sich der Kurve und deren Scheitelpunkt abseits der eigentlichen Ideallinie nähert. Er kann den Wagen dann immer noch um die Ecke und auf Linie zwingen, ohne dass sich Untersteuern einstellt.

Das macht Ricciardo nicht nur schnell, sondern vor allem auch zu einem der besten Überholer der ganzen Formel 1. Solange man ihm ein Auto hinstellt, das diese Fahrweise auch erlaubt. Red Bull konnte das, Renault und McLaren nicht.

So geriet Ricciardo auf ein Abstellgleis, von dem ihn nun sein Ex-Arbeitgeber erlöste. Mit einer Vorgeschichte, welche die Empörung der Niederländer auf ein Maß der ungerechtfertigten Empörung verzwergt. Ricciardo fuhr nach Silverstone am selben Ort einen Reifentest mit den Pneus der nächsten Generation. Die Zeit, die er dabei erzielte, hätte beim Grand Prix für einen Platz in den ersten beiden Startreihen gelangt. Das allein ist wenig aussagekräftig: Die Reifen waren anders, die Strecke zudem in einem deutlich besseren Temperaturbereich und Zustand; das allein soll, sagen englische Insider, schon gut für eineinhalb Sekunden gewesen sein.

Trotzdem sticht der Vergleich. Denn Red Bull hatte de Vries zum Test von Ricciardo in den Simulator gesetzt, in dem man die Strecken- und Reifenbedingungen äußerst realistisch einprogrammieren kann. Der Niederländer hatte so Referenzzeiten setzen müssen, um einen Vergleichswert zu Ricciardos Zeiten zu haben. Und alle Runden, die de Vries im Driver-in-the-Loop fuhr, waren klar langsamer als jene von Ricciardo auf der echten Rennstrecke. Das war der ultimative Test, den de Vries nicht bestanden hat – und der Ricciardo nun zu seinem Formel 1-Comeback verhilft.

Für den Australier ist das nur der erste Schritt zurück. Im Alpha Tauri, aufgrund der falschen Entwicklungspolitik vom scheidenden Teamchef Franz Tost inzwischen das schlechteste Auto im Feld, will er Anlauf nehmen, um Sergio Checo Perez aus dem Red Bull-Cockpit im A-Team an der Seite von Max Verstappen zu kegeln. Und die Limofirma nutzt den erstarkenden Aussie gleich dazu, den Druck auf den Mexikaner zu erhöhen. Dessen Leistungen stagnieren seit ein paar Rennen auf schwachem Niveau, Dr. Marko baut mit Ricciardo eine Drohkulisse auf, die Perez nun schultern muss.

Man braucht kein Hellseher zu sein, um zu erahnen: Das wird der Mexikaner nicht schaffen. Denn auch über Perez grassiert jene Meinung, die in Mexiko-Stadt über de Vries geflüstert wurde: geistige Kapazität mangelhaft.

Das Stühlerücken der Reise nach Jerusalem, die jedes Jahr die Silly Season der Cockpitwechsel ausmacht, hat dieses Jahr ungewöhnlich früh begonnen – mit einer Auswechslung mitten in der laufenden Saison aufgrund von ausgemachter Perspektivlosigkeit für und mit de Vries. Das Fahrerkarussell nimmt jetzt Fahrt auf.

Das Formel 1-Aus von de Vries überrascht gründlich Recherchierende nicht. Ebenso wenig wie eine konkrete Folge: Der Niederländer wird schon bald zu einem gefeierten Leistungsträger im Sportwagen-Langstreckensport werden. Denn seine Grundschnelligkeit steht nicht infrage, seine Fahrzeugbeherrschung ebenso wenig. Für die Erste Liga hat's nicht gereicht, doch in der zweitanspruchsvollsten Motorsportsparte wird er zu einem Leistungsträger reifen.

Das Comeback von Ricciardo kommt genauso wenig überraschend wie die Ausmusterung von de Vries. Der Australier hat schon zu gemeinsamen Zeiten in den Nachwuchsformeln unter Beweis, dass er fahrerisch, körperlich und geistig ein Topmann ist. Aus dieser Zeit stammt auch das Wissen, wie man seinen Namen richtig ausspricht, er hat es selbst erklärt: Er liest sich zwar italienisch, weil Vorfahren aus Sizilien stammen. Doch er spricht sich nicht etwa italienisch schwungvoll Ritschijardo, auch nicht Rickijardo – sondern typisch australisch vernuschelt Rickahdo.


Teile diesen Beitrag

Das könnte auch interessant sein:

  • 21.11.2024

    Vettel Opfer des VW-Chaos

    Der Anflug auf Las Vegas ist immer eine besondere Schau. Denn meistens kommt man nicht nur direkt über den Strip – also die glitzernde Meile voller Kasinos und anderer Sündenpfuhle…
  • 01.11.2024

    Die Kunst des Überholens

    Der Spruch begleitet jeden Motorsportler schon, seit er sich mit dem Sport befasst: „Die Kurve gehört mir“. Oder wahlweise auch irgendjemanden mit Namen, je nachdem, wer gerade der…
  • 25.10.2024

    Weichspüler statt Sportler

    Reisen nach Mexiko haben immer einen gewissen Abenteuerfaktor. Das liegt an Montezumas Rache. So heißt – zumindest in Motorsportkreisen schon seit den Achtzigern – eine typische Du…
  • 02.10.2024

    Auf nach Wasserburg

    Oldtimertreffen können zuweilen etwas merkwürdige Veranstaltungen sein, zumindest für echte Racer: Ältere Herrschaften stehen mit ebenso alten Autos beisammen, unterhalten sich ode…
  • 18.09.2024

    Der Oscar geht an…

    Jetzt macht die Formel 1 richtig Spaß. Denn ab jetzt muss jeder Schuss sitzen. Lando Norris hat noch eine reelle Chance, Weltmeister zu werden. Aber nur, wenn weder er noch McLaren…
  • 13.09.2024

    Max und Mojo

    Am Ende stellte es zwar keine Überraschung mehr da. Aber ein Kracher ist es dennoch: Adrian Newey, das derzeit größte Genie unter den Formel 1-Konstrukteuren, dockt bei Aston Marti…
  • 08.09.2024

    Kartoffel-Held

    Norick Blödorn gilt als das deutsche Toptalent im Speedway schlechthin. Der gerade mal 19-Jährige aus der Nähe von Kiel bestreitet ab dieser Woche mit seinem englischen Ligaverein,…
  • 07.09.2024

    Nippel, Zakspeed und noch viel mehr

    Hallo lieber PITWALK-Freund, wir sind schon fast wieder fertig mit der nächsten Ausgabe von PITWALK. Die Kollegen sind dabei, den 180 Seiten den letzten Feinschliff zu verpassen, …
  • 29.08.2024

    Niemand will Mick

    Der Anruf endet in einem murmelnden Ächzen. Christopher Mies, einer der besten deutschen GT3-Sportwagenpiloten überhaupt und momentan bei Ford in einem der Mustang für die nordamer…
  • 21.08.2024

    Ist Handball gleich Fußball?

    Manche Fässer hätte man am besten gar nicht erst aufgemacht. Kurz vor Ende der Formel 1-Sommerpause lässt sich Kyle Larson, ein 32-jähriger US-Rennfahrer aus Kalifornien, mit den W…
  • 31.07.2024

    Der Wonderboy ist tot

    Es ist genau die Nachricht, die alle Hoffnung zunichte macht. Tommy Dunker lebt nicht mehr. Der Schleswig-Holsteiner verstarb bereits am 4. Juli. Doch die Familie hielt die Todesna…
  • 28.07.2024

    Orange is the New Depp

    Die Flinders Street Station ist einer der wichtigsten Knotenpunkte im ÖPNV von Melbourne. Und an einer ihrer Ecke steht ein kleiner Lebensmittelladen, grad so, wie man ihn bis vor …
2024 – BILD-PUNKTE LAREUS.MEDIA