18.09.2024
Jetzt macht die Formel 1 richtig Spaß. Denn ab jetzt muss jeder Schuss sitzen. Lando Norris hat noch eine reelle Chance, Weltmeister zu werden. Aber nur, wenn weder er noch McLaren sich auch nur den kleinsten Fehler leisten. Dann kann der milchgesichtige Brite eine der größten Aufholjagden der Motorsportgeschichte noch zu einem erfolgreichen Abschluss bringen.
Der Schlüssel zu allem liegt in Miami. Dort hat McLaren mit jenem Upgrade begonnen, das die Lücke zu Red Bull geschlossen und den orangenen Dienstwagen von Norris und Oscar Piastri schließlich je überlegener machte, desto mehr weitere Ausbaustufen des Ur-Upgrades freigegeben und angebaut wurden.
Dabei wird ein Detail gern übersehen: In Miami hat nur Norris das Initialupgrade bekommen, nicht Piastri. Und bis zur Sommerpause hat das Team diese interne Schere beibehalten: Piastri fuhr immer mit einem Auto, das mindestens einen Entwicklungsschritt hinter jenem von Norris war.
Seit McLaren beide Wagen auf denselben Stand umgerüstet hat, ist Piastri beharrlich besser als Norris. Das zeigt: Der Australier ist perspektivisch der bessere Fahrer. Deswegen widmet PITWALK ihm auch in der aktuellen Ausgab eine eindrucksvolle Personalitystory: https://shop.pitwalk.de/magazin/122/ausgabe-79?c=6 Und es erzwingt eine knallharte Strategie: Die Ingenieure und Chefs müssen den Jungspund aus Melbourne auf Linie bringen und halten, damit der sich stramm hinter Norris stellt und dem Engländer notfalls auch einen besseren Platz überlässt. Denn Siege von Piastri und zweite Plätze von Norris sind zu wenig, um den Briten noch zum Weltmeister zu machen.
Norris muss jeden Lauf gewinnen und bei jedem Grand Prix die schnellste Rennrunde drehen. Dann reicht die Punkteausbeute, um Verstappen aus eigener Kraft noch abzufangen.
Das heißt aber für McLaren: volle Konzentration auf Norris. Piastri muss die Backen des Hinterwertesten zusammenkneifen – und sich drauf verlassen, dass seine Zeit teamintern anbricht. Wie ungern er das tut, hat er bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Und sein Manager Mark Webber ist auch bekannt dafür, sich gern mal Stallordern zu widersetzen.
Es gibt viele Auguren, die genau daraus schlussfolgern, dass die Aussie-Fraktion sich nicht in den Dienst des Teams stellen werde. Doch dabei wird leicht übersehen, wie ausgebufft gerade Webber ist: Der ehemalige Vettel-Teamkollege und Le Mans-Sieger weiß genau, welche Karten er wann spielen kann. Solange die WM offen ist, oder aussichtslos für den eigenen Teamkollegen, kann man gnadenlos den Egoisten raushängen lassen. Und muss das auch, denn nur, wenn man kompromisslos zeigt, dass man der Schnellste ist, wird wahlweise das eigene oder ein anderes Team auf einen aufmerksam. Fügt man sich im DTM-Stil von Anbeginn an willfährig ein, gilt man im Zweifel als nicht hart genug – und wird zum Mitläufer abgestempelt.
Außerdem gilt der alte Schnack: „Der Teamkollege ist immer Dein härtester Gegner“, schließlich ist er der einzige im ganzen Feld, der mit identischer Technik unterwegs ist – also mithin die einzig wahre Messlatte für die eigene Grundschnelligkeit. Solange freie Fahrt opportun ist, müssen die Fahrer sich in Szene setzen – und notfalls auch Stallregie ignorieren. Webber hat das am eigenen Leib schmerzlich zu spüren bekommen, als er sich drauf verlasen hat, dass Vettel sich im Malaysia füge – aber der gar nicht daran dachte.
Webber hat daraus seine Lehren gezogen, das hat man schon auf seiner letzten Fahrerstation bei Porsche gemerkt: Er hat intern seinen Claim abgesteckt, solange das bei Tests und in Trainings noch ging. Doch während der Langstreckenrennen hat er sich voll in den Dienst des Teams gestellt und dafür auch in Kauf genommen, dass er dabei in manchen Situationen schlechter aussah als er ist.
Interessant dabei: Als Fernando Alonso zwischen seinen Formel 1-Engagement auch mal bei Toyota auf der Langstrecke ein Intermezzo ablegte, da war der Spanier genau dazu nicht in der Lage. Er fuhr auch innerhalb des Fahrertrios wie ein Einzelkämpfer im Grand Prix-Modus, brachte das Team und die Mitstreiter im eigenen Auto reihenweise gegen sich auf – und wurde letztlich deswegen bei Toyota sogar vor die Türe gesetzt.
Webber ist da viel mehrdimensionaler. Und die Familie Piastri verlässt sich auf den Einfluss ihres Landsmanns. Wie es dazu kam, steht in einem großen, sehr persönlichen Porträt über Piastri in der neuen Ausgabe der Zeitschrift PITWALK: Papa Piastri hat, als sein Sohn die ersten England-Jahre in den Nachwuchsserien absolvierte, gemerkt, dass man ohne Rat von erfahreneren Szeneinsidern verloren ist – die Teams verlangen doppelt so hohe Preise und gaukeln falsche Tatsachen vor, um junge, aber naive Fahrer an sich zu binden. Webber und seine Lebensgefährtin Ann Neal, die ihrerseits Webber gemanagt hat, haben dem ein P vorgesetzt: So günstig wie Piastri ist noch kein Jüngling durch die Nachwuchsformelinstanzen geschritten. Die genauen Kosten, die angefallen sind, stehen ebenfalls in der erstaunlich offenen Geschichte in der neuen PITWALK.
Die Cleverness von Webber wird Piastri überzeugen, dieses Jahr eine dummen Sachen mehr zu reiten, mit denen er die Aufholjagd von Norris gefährden könnte. Und sie wird gleichzeitig die McLaren-Oberen überzeugen, ab 2025 vermehrt auf Piastri zu setzen.
Webber hat das mit einem einzigen Schachzug selbst eingeleitet: indem er in einem Interview mit dem englischen Fernsehen extra noch Mal darauf hingewiesen hat, dass sein Schützling ab Miami zunächst kein ebenbürtiges Material gehabt hätte.
Damit hat er den Kessel maximal unter Dampf gesetzt, gleichzeitig aber auch für Ruhe gesorgt. Eine kommunikative Meisterleistung. Die entfaltet ihre Wirkung nicht nur McLaren-intern – sondern auch bei Red Bull. Die Limonadenabfüller haben schon angekündigt, dass ihr Upgrade, das technisch in die gleiche Richtung zielt wie jenes von McLaren, erst in Austin greifen wird. Ferrari dagegen hat in einer hastigen Aktion schon für Singapur jenen Frontflügel kopiert, mit dem McLaren seine ersten Matchbälle verwandelt hat. Wenn er auch nur im Ansatz funktioniert, obschon übers Knie gebrochen, dann werden die beiden Ferrari zweite Kraft hinter den beiden McLaren – und plötzlich hat Verstappen neben Norris noch drei weitere Fahrer, die ihm regelmäßig Punkte klauen.
Und damit würde der Niederländer dann doch nicht mehr Weltmeister.