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03.07.2020

Die Geister, die die Formel 1 rief


Wer hätte das gedacht? Plötzlich ist Norden – oder besser gesagt Halbemond – ein Vorbild für ganz Motorsportdeutschland. Und sogar für die Formel 1. Denn das, was am Sonnabend vor Muttertag im Motodrom in der ostfriesischen Marsch aufgeboten worden ist, findet sich nun beinahe 1:1 im Fahrerlager von Spielberg, vor den ersten Geisterrennen der verspäteten Grand Prix-Saison: Masken, Desinfektionsstationen, Hinweisschilder zum Abstandhalten, luftige Zwischenräume zwischen den einzelnen Warfen, auf denen die Teams arbeiten, und leere Ränge.

Dass ausgerechnet die Randsportart Speedway Vorreiter für das Wiederhochfahren des Motorsports nach der Coronastarre geworden ist, hat seit Anfang Mai vielfach für Verblüffung gesorgt. Bei den vielen Gesprächen für unsere Hintergrundberichterstattung zu den Folgen von Covid-19 für den Motorsport – sei es für die Zeitschrift PITWALK, unsere Podcasts oder unseren gerade vitalisierten YouTube-Channel – staunte die Gegenseite immer wieder: Warum ist der deutsche Motorsportdachverband so pomadig, warum haben es die Norder und auch der MC Meißen mit viel mehr Mut und Eigeninitiative so viel besser geschafft, die Krise abzuschütteln, als der große und ach-so-professionelle Automobilsport? Und auch: Was braucht die Formel 1 so lange, wo doch nach dem Speedway drüben in den USA die NASCAR und auch die IndyCar schon lange wieder fahren?

Die Antworten sind einfach: Der DMSB hat in Deutschland zu wenig getan, vor allem im Vergleich zu den Aktivitäten anderer nationaler Verbände – und die Formel 1-Machthaber mussten mehr Vorsicht walten lassen als die Macher mit ihrer Ärmeaufkrempeln-Mentalität. Denn: In der Formel 1 sind große Firmen am Werk. Sie alle haben strenge Corona- und Krankheitsmaßnahmen, und sei es nur aus Haftungs- und Versicherungsgründen. Die Quarantäneregeln bei Mercedes und Renault sind nun mal umfassender und reichen in mehr Abteilungen als bei Meik und Wiebke Lüders im Motodrom. Oder auch bei den rein privat betriebenen Rennteams in den USA, bei denen das Konzernungetüm „Compliance“ nicht wuchert, sondern der gesunde Menschenverstand regiert.

Man hat’s bei Ferrari gesehen: Kaum war – wohl unausweichlich bei der Gesamtlage in Norditalien – der erste Mitarbeiter der Serienautofertigung positiv getestet, musste die ganze Fabrik in Maranello dichtgemacht werden. Inklusive des Rennteams, das eigentlich noch einige Tage hätte weiterarbeiten wollen.

Der zweite, Formel 1-typische Faktor: die große Internationalität. Ferrari und Pirelli sitzen genau in jener Region, die in Norditalien am ärgsten betroffen war, Alpha Tauri – das ehemalige Toro Rosso – schon nicht mehr. Die meisten Teams kommen aus England, Sauber-Alfa aus der Schweiz, viele Zulieferer aber auch aus Deutschland und Frankreich. Dass unter den vielen Mitgliedern des Wanderzirkus, die sich in der Regel alle 10 Tage wiedersehen, unweigerlich einige besonders gut geladene Virenschleudern dabei sind, bleibt nicht aus. Also muss man mehr tun als etwa die Fußball-Bundesliga, um denselben Effekt zu erzielen: völlig Akzeptanz und geringstmögliches Ansteckungsrisiko.

Deswegen legen die Sicherheitspläne auch ungewollt eine Zündschnur ins Fahrerlager, die diese Saison prägen kann: Selbst innerhalb der Teams muss eine strenge Trennung vom einen Auto – samt Mannschaft – zum anderen herrschen. Niemand darf mal eben rüber ins andere Gehege. Die Mauer ist wieder da. Gerade bei Ferrari und Mercedes kann das zu ziemlichem Gerumpel führen: Valtteri Bottas ist näher an Lewis Hamilton dran, als die meisten denken. Wenn Bottas besser aus den Bändern kommt, wird’s für Hamilton eng. Und bei Ferrari brennt sowieso die Hütte, seit man Sebastian Vettel unsanft vor die Tür gesetzt hat. So kann das komische Szenario von Geisterrennen sogar für zusätzliche Spannung sorgen.

Erst recht, wenn Max Verstappen tatsächlich zum großen Gewinner wird. Red Bull hat einige Innovationen am Auto, etwa ein absenkbares Heck oder mehr Nachlauf an der Vorderachse, dazu hat der Honda-Motor in Sachen Leistung und Durst gleich zwei große Fortschritte gemacht. Nach den Barcelona-Tests, dem bislang einzigen Gradmesser, sagen alle: „Mercedes ist vorn“. Doch wer genau hinschaut, kann nicht umhin, Verstappen zum Geheimfavoriten zu küren.

Außer, jener Hackerangriff, der das Honda-Werk in Japan samt aller weltweiten Importeure für knapp zwei Wochen lahmgelegt hat, hatte auch Folgen auf die ausgelagerte Motorsport- und Formel 1-Abteilung. Irgendwelche Erpresser fanden, Corona sei noch nicht genug Virus – und haben Honda einen weiteren auf die Server gedüdelt. Honda hat ewig gebraucht, alle Rechner abzukoppeln, den Virus zu killen und die Systeme wieder hochzufahren. Solange musste sogar die Serienautomontage in Japan und anderen Werken ruhen. Die Formel 1-Verantwortlichen beteuern zwar, sie arbeiteten mit separaten Servern – aber Schnittstellen gibt’s immer, sei es nur bei den Lieferantenstammdaten im Einkauf.

Die Liste der Unwägbarkeiten hört nicht auf. Mercedes musste am Donnerstag alle Motoren ausbauen, auch jene der Kundenteams, weil sich ein Problem eingeschlichen hat, das durch die Qualitätskontrolle im Werk geflutscht ist. Dank der Abstandsregeln dauern Motorwechsel nun aber doppelt so lange, weil sich die Mechanikercrews von zwei Autos dabei nicht mehr gegenseitig helfen dürfen, sie „die Mauer ist wieder da“. Und ob die Kalamität durch den Massentausch weg ist, wissen sie bei den Schwaben auch nicht.

Gleichzeitig schickt Ferrari eine neue Motorenausbaustufe ins Rennen, um ein Leistungsmanko auf Honda und Mercedes wettzumachen – mit einem älteren Getriebe, das in Feinheiten nicht dazu passt. Und nach den beiden Geisterrennen von Spielberg gibt’s schon ein B-Modell mit ganz auf links gedrehter Aerodynamik.

Bei so vielen Variablen in der Gleichung verspricht die Rumpfsaison mehr Spannung als die vorigen Jahre. Vielleicht interpretiert man das aber auch alles nur da rein, weil man so lange dem Erwachen der Königsklasse entgegengefiebert hat.

Zwei Sachen dürfen auf keinen Fall passieren: Dass Lewis Hamilton gleich das erste Rennen gewinnt – denn dann denkt jeder: „Jetzt geht das alles schon wieder genau so weiter wie vorher.“

Und – und das ist die größte Angst der Formel 1-Macher – dass ihr Modell gleich platzt, weil eine Coronaerkrankung die ganze Isolierung im Fahrerlager als nutzlos entlarvt. Dann endet die Saison schneller, als sie begonnen hat. Und dann ist der wirtschaftliche Schaden immens. Die Formel 1 hängt derzeit noch zwischen zwei Effekten aus der weiten Feld des Sports: dem positiven Beispiel der Basketball-Bundesliga – und dem Fiasko der Tennis-Balkantour.


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