01.11.2024
Der Spruch begleitet jeden Motorsportler schon, seit er sich mit dem Sport befasst: „Die Kurve gehört mir“. Oder wahlweise auch irgendjemanden mit Namen, je nachdem, wer gerade der Sprecher ist. Jedenfalls kann man das Gehören eigentlich klar definieren, und es geht dabei nicht ums Besitzen, sondern nur darum, wer im einem engen Zweikampf unbehelligt durch eine Kurve fahren darf.
Jetzt bringt Max Verstappen diese Diskussion neu zum Entfachen, weil er einen ganz besonderen Duellstil pflegt: Er hat die Kunst perfektioniert, seine Gegner schon vor dem Scheitelpunkt aussteigen zu lassen. Dazu lässt er sich selbst einfach so weit nach außen treiben, dass ein Angreifer außen neben ihm unweigerlich die Lenkung aufmachen und meist sogar in eine Auslaufzone steuern muss, anstatt die Kurve auf der Strecke zu nehmen.
Das sieht rüde aus, und es bringt die Gegner auf die Palme. Früher Lewis Hamilton und das Mercedes-Lager, heute Lando Norris und die McLaren-Fraktion. Denn wer Verstappen angreifen möchte, der muss auf solch’ rabiate Gegenwehr gefasst sein. Und diese Art der Defensivarbeit beklagt die Gegnerschaft als unfair.
Aber ist sie das wirklich? Nicht solange man den Motorsport nach altem Schrot und Korn interpretiert. Da nämlich hat stets derjenige das Anrecht auf die Kurve, der es schafft, sich innen längsseits neben einen Konkurrenten zu setzen und dann später zu bremsen als der Attackierte. Sobald der Angreifer beim Einlenken die Nase – buchstäblich – vorn hat, gehört ihm die Kurve. Vom Scheitelpunkt ist da aus gutem Grund keine Rede: Es geht darum, den Gegner auszubremsen. Das ist der Fachbegriff dafür.
Man muss zwischen aus- und einbremsen unterscheiden, auch wenn der Begriff des „Ausbremsens“ heutzutage in allen möglichen Polizei- und Zeitungsberichten munter falsch verwendet wird. Verkehr soll eingebremst werden; ein Oberlehrer auf der Straße bremst den anderen Fahrer, den er maßregeln möchte, ein – aber niemals aus. Ausbremsen tut nur, wer vor einer Kurve später auf die Bremse treten kann und dem Kontrahenten so eine Position im direkten Zweikampf abknöpfen kann.
Ein Ausbremsmanöver ist meistens auf der Innenbahn erfolgreicher als außenrum. Ganz einfach, weil der Weg kürzer und der Winkel spitzer. Ausbremsen ist die hohe Kunst des Autorennens. Jeder, der innen ausgebremst wird, erkennt das irgendwann auch an – und lenkt nicht einfach aufs Geratewohl ein und in den Gegner hinein.
Wer ausbremsen möchte, muss also erst mal einen Weg auf innere Spur finden. Und wenn Verstappen diese Innenbahn konsequent in Raumdeckung nimmt – dann leistet er einfach bessere Defensiv- als sein Gegner Offensivarbeit.
Wenn ein Fußballteam effektiv verteidigt – gibt das den gegnerischen Angreifern automatisch das Recht, der anderen Abwehr einfach in die Knochen zu springen?
Mit der Abwehrarbeit im Motorsport ist es genauso. Der Angreifer muss einen Weg finden, um den Hebel anzusetzen – und nicht etwa die Brechstange. In den meisten Kurven, in denen Verstappen seine Gegner aussteigen ließ, waren die aber schon mit der Brechstange unterwegs. Sie wollten immer außenrum überholen. Das geht aber nur in ganz wenigen Kurven: Die müssen lang genug und am besten noch steil überhöht sein, nur dann kann man zu zweit rumkommen und den Gegner außen mit mehr Schwung überholen.
In Ovalen funktioniert das anders, deswegen ist etwa die IndyCar in den USA kein Vergleich. Und auch in anderen Rennserien, notabene bei Langstreckenrennen à la Le Mans in Sportprototypen, sieht man immer wieder, dass zwei Autos mehrere Kurvengeschlängel nebeneinander fahren. Aber auch das kann man nicht vergleichen: Die Luftführung der Le Mans-Prototypen ist darauf ausgelegt, dass genau das funktioniert – nicht nur auf der absoluten Ideallnie schnell zu sein, sondern auch abseits davon. Denn auf der Langstrecke muss man immer wieder überrunden; wenn das Auto da zu spitz nur auf die Ideallinie abzustimmen ist, dann verliert man bei jedem Überholmanöver Zeit. Der Nebeneffekt davon lautet: Man sieht mitreißende Manöver Seite an Seite über ganze Kurvensequenzen hinweg.
Aber nicht, weil die Fahrer sich gegenseitig mehr Raum lassen. Sondern weil die Autos es konstruktionsbedingt hergeben. Das ist bei einem Formel 1 anders: Die Aerodynamik ist derart radikal ausgelegt, dass es in den allermeisten Kurven nicht funktioniert, nebeneinander zu fahren. Man muss die Ideallinie in Beschlag nehmen. Und da muss man sich als Ahgreifer eben positionieren.
Bei Verstappen kommt noch ein Sonderfall dazu: Weil Red Bull die Weiterentwicklung falsch angepackt hat, ist Verstappens Auto nicht nur langsamer geworden als die derzeit überlegenen Ferrari und auch die McLaren – sondern auch unkalkulierbarer. Der Wagen entwickelt seit einem halben Jahr an Stellen ein Untersteuern, wo er vorher wie auf Schienen lag. Dieses Schieben über die Vorderachse sorgt auch dafür, dass der Niederländer gern mal den Scheitelpunkt verpasst – oder es dient ihm zumindest als probate Entschuldigung.
Man muss neidlos anerkennen: Verstappen ist ein Großmeister der Defensivarbeit – oder auch des rüden Überholmanövers, wenn er dieselbe Fahrweise bei eigenen Angriffen anwendet: innen eintauchen, spät bremsen, sich am Scheitelpunkt vorbeitreiben und dem Gegner keinen Raum lassen. Dieser Fahrstil hat Methode.
Aber: Verstappen schafft es immerhin, auf die Innenbahn zu kommen und dann klassisches Ausbremsen zu exerzieren, bis an die die Grenze der Fairness. Andere Angreifer sehen innen gegen ihn meist kein Land. Das Gerede vom Scheitelpunkt, das gerade aufflammt, kann man vergessen: Wer Verstappen schlagen will, muss das mit dessen eigenen Waffen tun und nicht auf ein Eingreifen der Sportkommissare hoffen. Sonst ist er schlicht nicht weltmeisterwürdig.