17.06.2021
Schuld sind immer die Anderen. Dieses Argumentationsschema zieht sich schon seit Jahren durch die Kommunikation von Pirelli, wenn mal wieder aus heiterem Himmel die Reifen bei einem Grand Prix platzen.
Etwa wie beim vergangenen Großen Preis von Aserbeidschan in Baku, wo Max Verstappen ein Hinterreifen und damit auch der Ausbau der WM-Führung um die Ohren geflogen ist.
Der Einheitsreifenlieferant aus Italien hat schlechte Erfahrungen mit der Formel 1 und den Rahmenrennserien gemacht: Seit Pirelli dabei ist, wird die Marke nur dann erwähnt, wenn etwas schiefläuft. Halten die Pneus klaglos, wird das für selbstverständlich erachtet – so soll es schließlich auch sein. Doch bei Reifenschäden, auch nur bei unbotmäßig hohem Verschleiß oder Abbau, hagelt es sofort Kritik und Zweifel an der Kompetenz.
Schäden wie jene von Baku oder auch von Silverstone sehen nun auch denkbar tollpatschig aus, wirken wir Konstruktionsmängel oder Produktionsfehler. Mindestens aber ziehen sie die immensen Kräfte, die bei einem Formel 1-Auto an den Reifen zerren, nicht richtig ins Kalkül. Und die Belastungen sind seit Beginn der Öko-Hybridregeln, die zwecks Rundenzeitenkosmetik auch noch mit höheren Leistungen und mit mehr aerodynamischem Abtrieb einhergegangen sind, noch mal erheblich erheblich höher geworden. Pirelli hat damit nur im Ansatz Schritt gehalten: Immer, wenn extreme Lastspitzen auftreten, geht etwas schief.
In Baku etwa traten die Schäden an der Innenflanke der Reifen auf. Dort sind die Belastungen gerade bei jenen Teams besonders stark, die mit viel Sturz fahren – weil dann der Reifen stark auf der inneren Schulter liegt.
Pirelli will sich mit starren Vorgaben für den Kaltluftdruck und die Starttemperatur der Reifen absichern. Doch die Reifen sind nicht mit Luft gefüllt, sondern mit einem Stickstoffgemisch. Und das kann man unterschiedlich anreichern, sodass es sich etwa zwischen dem Zeitpunkt der Messung – wenn die Pneus aus den Heizdecken gewickelt werden – und dem Ernstfall im Rennen noch mal stärker abkühlt als von den Ingenieuren vorab berechnet.
Die Reifennutzung ist immer ein schmaler Grat. In der US-amerikanischen IndyCar etwa gilt Patricio O’Ward, der bei Red Bull aus dem Formel 1-Nachwuchsprogramm rausgeschmissene Mexikaner, als Meister des schnellstmöglichen Anwärmens seiner Reifen, wenn er aus der Box kommt oder nach einer Safetycarphase. Dann erreichen die Pneus ihren „Peak“ – ihren maximal möglichen Haftbeiwert – schneller, bauen aber auch um so rascher wieder auf. Wenn man weniger Hitze in die Reifen gibt, kann man diesen thermischen Verschleiß eingrenzen. Und wenn man mit geringerem Kaltluftdruck losfährt auch. Der Nachteil ist dann, dass man die Reifen nicht so schnell „switched on“ kriegt – „angeschaltet“, so lautet der Terminus Technicus.
Red Bull sucht mit dem Absenken des Kaltluftdrucks und mit aggressiven Sturzwerten einen Kompromiss. Doch dann sind die Reifen auf den ersten Kilometern, wenn der Stickstoff in ihrem Inneren sich noch nicht ausreichend erhitzt und ausgedehnt hat, vulnerabel – wie es seit Corona so schön heißt: Weil die Luft sich in ihrem Innern nicht breit gemacht, fehlt der Reifenkonstruktion die Abstützung von innen, quasi das Fundament. Jeder Schlag etwa von Randsteinen oder Bodenwellen kann dann dafür sorgen, dass die Flanke einknickt wie eine leere Bierdose, die man zusammendrückt. Sie kommt zwar sofort wieder hoch, aber in ihrer Falte können sich erste Risse gebildet haben, die dann bei der nächsten Druckstelle oder auch nur, wenn der Reifen sich beim Wärmerwerden aufbläht, aufribbeln wie die Socken, die Oma nicht sauber genug gestrickt hat.
Auch das ist nicht neu. Im GT3-Sport müssen die Fahrer beim 24-Stundenrennen von Spa während ihrer ersten Runden tunlichst bewusst von den Kerbs wegbleiben, um keine Falzschäden an der Innenseite zu riskieren. Und auch im Tourenwagensport sind Reifenplatzer in extremen Streckenpassagen, etwa der langgezogenen Fahrerlagerkurve auf dem Salzburgring, Usus.
In der Formel 1 gebe es längst Wege, solche Tricksereien beim Kaltluftdruck nach dem Auspacken aus den Heizdecken zu umgehen. Denn jedes Team verwendet Reifendrucksensoren, die jederzeit genau übermitteln, wie warm die Luft und die Lauffläche sind und wie sich der Innendruck entwickelt. So werden Fahrer rechtzeitig vor sich anbahnenden Reifenschäden, den sogenannten „Slow Punctures“, gewarnt. Verstappen hatte zwar keinen solchen Schleichenden Plattfuß. Aber wenn die Daten der Teams vom Startplatz über die Einführungsrunde bis zum Start nicht nur an den Kommandoständen der Rennställe, sondern auch bei Beobachtern der Rennleitung aufliefen, könnte man das Ausloten von Grenzbereichen beim Kaltluftdruck im Keim ersticken.
Die Teams und Pirelli wehren sich mit dem Argument, die Messgenauigkeit der Sensoren sei zu ungenau. Aber das ist eine Ausflucht. Es geht nur darum, eine Überwachung herzustellen, Toleranzen hin oder her. Eigentlich braucht die Formel 1 nur Pawlow’sche Hunde beim Reifenmanagement. Die muss man übers Sportliche Reglement herstellen. Damit solche Verzerrungen wie in Baku nicht mehr passieren können.
Das nötige Argument für eine Adhoch-Regeländerung gibt’s schon: „aus Sicherheitsgründen“. Denn bei einem Abflug infolge Plattfußes kann dem Fahrer immer auch was passieren. Und Regelnovellen zugunsten von mehr Sicherheit kann man jederzeit umsetzen – das gilt im Fahrerlager als das Totschlagargument schlechthin.