26.03.2019
Es gibt in Norddeutschland wohl kaum einen schöneren Ort, den Sonnenuntergang zu beobachten, als am Kaiserstrand der Insel Norderney, etwa zwischen Marienhöhe und Milchbar. Die Sonne fällt draußen am Horizont jeden Abend ins Meer und versinkt in der Nordsee – die Jahreszeit und das Wetter sind ihr völlig egal. Nur wer sich von der Schönheit blenden lässt und auch im März mit kurzen Hosen an den Strand hockt – der braucht sich hinterher auch nicht über eine Erkältung zu beklagen.
Ferrari hat genau so einen Anfängerfehler gemacht – und sich von der eigenen Sonne blenden lassen, ohne das wahre Wetter mit ins Kalkül zu ziehen. Denn was im Nachgang von Melbourne rauskam, kann einen nur verwundert mit dem Kopf schütteln lassen.
So weit daneben liegt man selten. Aber der Absturz von Ferrari beim vorigen Grand Prix in Melbourne hat allenthalben für Verblüffung gesorgt: Wie kann man binnen zweier Wochen 1,2 Sekunden einfach so vertändeln? Das erinnert fatal an die verheerende zweite Saisonhälfte 2018, in der man Sabastian Vettel reichlich tollpatschig um den WM-Titel gebracht hat.
Ferrari musste sich erst Mal beruhigen – und tat das mit einem Verweis darauf, Mercedes müsse bei den Testfahrten in Barcelona geblufft haben, anders könne es ja gar nicht sein.
Dann bohrt man am Telefon mal ein bisschen nach, piekst geheime Informanten an – und kriegt ein ganz anderes Bild. Eben eines, das zum Gleichnis mit Norderney passt. Dreh- und Angelpunkt sind natürlich die Regeländerungen, die Formel 1-Ingenieur Günther Steiner in unserem Vorschau-Podcast auf Melbourne so ausgiebig erklärt hat. Vor allem ein Kernbereich: die neu geformten Lufthutzen für die Bremsenkühlung an der Vorderachse.
Da in der Formel 1 immer alles mit allem zusammenhängt, leiden diese Hutzen direkt unter dem neuen Konzept des Frontflügels von Ferrari. Es kommt weniger Luft zwischen den Vorderrädern an, weil die abfallend konturierten Spoiler mehr Fahrtwind im weiten Bogen ums Auto werfen. Und die Hutzen dürfen 2019 erstmals nur noch zur Bremskühlung dienen, nicht mehr aerodynamischen Zwecken dienen. Bis dato war eine ihrer Hauptaufgaben auch, das Aufheizverhalten der Reifen von innen heraus, durch die Konstruktion hindurch, zu regulieren. Das ist ab 2019 ausdrücklich verboten.
Beim Testen in Barcelona war es kühl, die Luft sauerstoffhaltiger und nicht so warm und dünn wie in Melbourne. Also liefen die Bremsen weniger heiß, weil die Hutzen besser versorgt wurden. In Australien kochten die zu gering gekühlten Bremsen dagegen die Gummis von innen heraus langsam über. Das machte den Ferrari zu jenem Reifenfresser, als der er nach Melbourne verschrien wurde.
Dass einem ganzen Ingenieurstab ein solcher Flüchtigkeitsfehler passieren kann, wirkt in der Perfektionistenwelt der Formel 1 wie blanker Hohn. Doch es zeigt auch, wie weit Ferrari noch davon entfernt ist, ein echt funktionsfähiges und effektiv arbeitendes Team zu haben. Die Aufräumarbeiten auf dem Trümmerhaufen haben gerade erst begonnen.
Heißt das, für Vettel ist schon wieder alles im Eimer? Mitnichten. Das Problem taucht in dieser Eklatanz nur auf, wenn die Sterne eine ungünstige Konstellation aufweisen: Es müssen die weichsten Reifen gefahren werden, es muss sehr heiß sein, und die Strecke muss einen Asphalt und ein Layout aufweisen, das vor allem die Vorderreifen über Gebühr belastet. Das ist sicher in Monte Carlo und Singapur der Fall. Aber schon in Bahrein weist der Teer eine andere Makrorauheit auf als in Melbourne. Denn der Asphalt für die Sandwüste von Sakhir ist mit Kies angerührt worden, der eigens dafür aus Wales importiert wurde. Dessen Körnung geht eher auf die Hinterreifen, und man verwendet härtere Reifentypen als in Melbourne.
Schanghai wird dann wieder ein Fragezeichen, denn das dortige Teerband ist mit derart feiner Körnung bepickelt, dass sich auf den Reifen gern kleine Kügelchen bilden – sogenanntes Micrograining. Das kann Ferrari wieder auf den Kopf fallen, wenn die Wagen zu sehr rutschen und sich nicht genug in den Asphalt festkrallen können. Denn dieses Rutschen auf der Lauffläche verarbeitet sie gerade in Schanghai zu kleinen Körnchen, kaum größer als auf Ihrem Mohnbrötchen.
All’ das ist reichlich kompliziert zu deuten, selbst für die Teams und deren hochgezahlte Ingenieure. Doch das Bild, das sich am Ende ergibt, ist dennoch einheitlich: Ferrari hat ein sehr gutes Auto. Aber nicht mehr den stärksten Motor. Den hat inzwischen Honda. Und das Springende Pferd von Ferrari ist eher ein störrischer Klepper, der auf der einen Piste extrem gut geht – auf der anderen aber alarmierend lahmen kann.
Ferrari muss daher dringend sein Upgradepaket vom Stapel lassen, das die Italiener eigentlich deutlich später bringen wollten als Mercedes das seine beim zweiten Barcelona-Test. Zögert man das bis zum intern angepeilten Termin – dem Barcelona-Grand Prix – heraus, geht man ein vermeidbares Risiko von weiteren Abstürzen à la Albert Park ein.
Vettel hat nach wie vor das Zeug und auch das technische Material, Weltmeister zu werden. Aber ein Spaziergang wird das nicht. Ganz im Gegenteil – den Italienern und ihrem deutschen Star steht eine harte Saison bevor.
Aber das kann uns allen ja nur recht sein. Seriensieger sind schließlich langweilig.