09.04.2022
Die Rennleitung macht schon gleich wieder Schlagzeilen. Zuerst mit einem erinnernden Rundschreiben, dass Formel 1-Piloten beim Fahren keinen Schmuck tragen dürfen, dann mit einer Untersuchung gegen Sebastian Vettel, weil der sich im Freien Training nach einem Ausfall nicht auf dem Sozius vom Roller eines Sportwartes hat zurück ins Fahrerlager kutschieren lassen – sondern selbst zum Lenker griff. Zu einer Zeit, als eigentlich schon keiner mehr auf die Piste durfte. Dafür musste der gerade von Corona Genesene am Freitagabend bei den Sportkommissaren vorsprechen – also jenem Gremium, das vor Ort darüber entscheidet, wie etwaige Vergehen geahndet werden. Quasi das Hohe Gericht der Formel 1.
Unnützer geht es nicht. Und die daraus entstandenen hitzigen Diskussionen zeigen nur, wie überhöht die Rolle der Funktionäre inzwischen gesehen wird. Spätestens nach dem umstrittenen Saisonfinale in Abu Dhabi, mit der fragwürdigen Umsetzung vom Wave-by und dem Neustart nach der Safetycarphase kurz vor Schluss, ist der Rennleiter ins Visier geraten.
Nach dem Eklat und den ganzen Nachbeben, die vor allem Mercedes-Teamchef Toto Wolff angestoßen hat, wurde Rennleiter Michael Masi gefeuert und durch zwei sich abwechselnde Nachfolger ersetzt: den Portugiesen Eduardo Freitas und den Deutschen Niels Wittich.
Wittich hat zuvor als Rennleiter im Deutschen Tourenwagenmasters fungiert; es gibt keinen, der seine Arbeit dort gelobt oder auch nur gut gefunden hätte. Freitas war ehedem Rennleiter in der Tourenwagen- und später der Sportwagen-WM. Bei den Tourenwagen hat er sich auch zuhauf Fehler geleistet, auf der Langstrecke – die anspruchsvollste Rundstreckensportart, die es gibt – sich dann aber schnell den Respekt aller verschafft.
Doch in der Formel 1 ist die Arbeitsweise eines Renndirektors eine andere als in kleineren Rennserien. Der Race Director ist kein Schiedsrichter, der das Recht auf den ersten Pfiff hat und gegebenenfalls im Nachhinein vom Videoassistenten korrigiert wird. Er ist vielmehr in einer Art Telefonistenrolle gefangen. In seinem Büro hockt er eingeklammert von zwei Tischen voller Beisitzer. Auf der einen Seite nehmen die Kollegen die Anrufe und Funksprüche der Teamchefs und -manager von der Boxenmauer entgegen. Auf der anderen Seite steht ein heißer Draht zu einer Art Back Office von FIA-Funktionären am Hauptsitz der Föderation – wo eine ganze Kohorte von Funktionären das Rennen beobachtet.
Der Renndirektor muss im Zweifel allfällige Einlassungen von der Boxenmauer an die Telefonseite mit dem heißen Draht zum Back Office weitergeben – und dann warten, bis diese Kollegen in der Ferne nach mehrfachem Studium der strittigen Szene zu einem Entschluss gekommen sind. Diesen Entschluss kabeln sie dann telefonisch wieder in die Rennleitung – und Freitas oder Wittich müssen ihn dann per Dekret im Eilverfahren während des Rennbetriebes umsetzen.
Das Spielen über eine kommunikative Bande ist ein Beispiel dafür, wie sich die verkomplizierte Formel 1 das Leben unnötig schwer macht. Jahrzehntelang ist man meist gut damit gefahren, dass Rennleiter Charlie Whiting oder das Panel der Sportkommissare vor Ort recht spontane Entscheidungen getroffen hat. Man hat als kundiger Fernsehzuschauer immer sofort gemerkt, wenn sich etwas anbahnte: Wurde eine Szene aus mehreren Blick- und Kamerawinkeln in Zeitlupe wiederholt, war das ein sicheres Indiz dafür, dass die Sportkommissare sich den Vorfall gerade anguckten, um ihre Entscheidung zu treffen. Denn sie hatten an der Rennstrecke vor Ort nur Zugriff auf dasselbe Fernsehbild vom sogenannten World Feed wie die TV-Stationen, die Teamoffiziellen an den Kommandoständen und die Journalisten im Pressezentrum.
Nach dem plötzlichen Herztod von Whiting, der zusammen mit seinem Stellvertreter Herbie Blash ein über Jahrzehnte gewachsenes Einfühlungsvermögen für Rennfahrer, aber auch Teamchefs entwickelt hatte und deren Emotionen und Befindlichkeiten zu nehmen wusste, entstand ein Loch, das mit neuen, verkomplizierten Strukturen gefüllt wurde. Seitdem ist die Tatsachenentscheidung out, es wird palavert wie im Deutschen Bundestag zur Impfflicht – und man kann sich als Rennsportversteher mit Fach-, aber auch gesundem Menschenverstand nur an den Kopf fassen, auf was für Kleinlichkeiten man bei der Regelauslegung alles kommen kann.
Scooter-Gate von Melbourne dürfte da erst der Anfang gewesen sein.