19.06.2022
Ausgerechnet rund um eine der am wenigsten durchdachten Reisen des Jahres geht das Geschacher los. Die Formel 1 reist binnen einer Woche mit Mann und Maus von Aserbaidschan nach Kanada – und wundert sich dann, dass ihr die Kosten davonrennen.
Der seit 2021 vom Reglement festgeschriebene maximale Höchstetat pro Team und Saison sei nicht mehr zu halten, ächzen die Spitzenteams, allen voran Red Bull und Mercedes. Denn die Inflation, die Folgen von Corona und vor allem des Ukrainekrieges sorgten dafür, dass alles teurer werde: die Fracht um das Dreifache, die Energie in den Fabriken um den Faktor 3. Dazu sei noch der Sonderfall gekommen, dass für 2022 wegen der neuen Autos wirklich jedes Einzelteil am Wagen komplett neu gebaut werden musste, es konnten keine Altteile wieder verwendet werden. Ferrari-Teamchef Mattia Binotto schätzt allein die Kosten dafür auf 30 Zusatzmillionen Euro.
Die großen Teams bauen Drohkulissen auf. Red Bull-Teamchef Christian Horner droht damit, einzelne Rennen auslassen zu müssen, um das Budget nicht zu überziehen. Denn das würde empfindliche Strafen nach sich ziehen.
Aber wie wahrscheinlich ist es, dass ein angehendes Weltmeisterteam auf den Titel verzichtet, indem es ein paar Rennen einfach herschenkt?
Eben.
Die großen Drei haben es selbst in der Hand. Ihre Belegschaft ist trotz des Kostendeckels kaum geschrumpft. Vor allem die Heerscharen der Ingenieure auf der mittleren Hierarchieebene, die reinen Innendienst schieben und einzelne Teilbereiche des Autos in immer neuen Iterationsschleifen verfeinern, ist aufgebläht wie eh und je. Denn die Teamchefs haben Angst, dass die Konkurrenz ihnen Leute mit Verstand abwirbt. Also zahlen sie lieber die Gehälter für 800 bis 1.000 Mitarbeiter – auch wenn deren Arbeitsauslastung heutzutage viel geringer ausfällt als vor dem „Budget Cap“.
Letztlich wird die Treffsicherheit bei der Entwicklungsrate darüber entscheiden, wer im Kostenrahmen bleiben kann. Wem zu viele Evo-Stufen und Neuteile misslingen, der muss in mühsamer Kleinarbeit nachjustieren und auch neu produzieren. Das geht ins Geld. Schon zwei Fehlschüsse bei der Entwicklung können darüber entscheiden, ob ein Team den Kostenrahmen reißt oder nicht. Wer das frühzeitig merkt, muss gewisse Neuteile, die in der Pipeline stecken, auf Eis legen.
Ferrari ist das Team, das derzeit am meisten davor bangen muss. Gar nicht mal, weil die Ausbaustufen nicht sitzen würden – sondern wegen der Ausfallhäufigkeit. Denn auch die Haltbarkeit muss über teure Forschungs- und Entwicklungsarbeit nachsondiert werden. Jeder Schaden erfordert ausgiebige Analysen – und Reaktionen, mit Verstärkungen oder neuen Teilen. Kostet alles. Die vielen Defekte haben Ferrari de facto bereits um einen Fehlschuss bei der Entwicklung gekostet. Die Italiener spüren die Pistole auf der Brust.
Deswegen lobbyieren sie auch mit Red Bull und Mercedes im Chor, um die Etatobergrenze von 141,2 Millionen Dollar erhöht zu bekommen. Sie pochen auf einen Passus im Regelwerk, der einem Inflationsausgleich entspricht: Bei einer Inflationsrate von mehr als drei Prozent in den G7-Ländern darf nachgebessert werden. Liegt die Inflation bei über sechs Prozent, darf man den Teams vier Millionen Dollar extra zubilligen.
Ferrari sagt, das seien im Vergleich zur realen Inflation immer noch Peanuts: Der Finanzbedarf sei jetzt schon um 8,5 Millionen Dollar gestiegen, das Ende der Preisspirale noch nicht in Sicht. Deswegen erhalten die Forderungen derzeit von Woche zu Woche mehr Nachdruck.
Aber wer es mit sich machen lässt, dass die Serienbetreiber einen für die Rennen kreuz und quer über den Erdball hetzen, darf sich nicht beklagen. Mit gezielten Argumenten hätten die Teams mal besser darauf hingewirkt, dass der Kalender eine sinnvolle Reiseplanung vorsieht – mit Routen, die man der Reihe nach abarbeiten kann. Das Argument, dass zwei Rennen in Nordamerika zum Beispiel sich gegenseitig kannibalisieren, ist hanebüchen: Hat schon mal jemand auf die Landkarte geguckt, wie weit Montréal und Miami auseinanderliegen? Das ist keine Distanz wie zwischen Norden und Moorwinkelsdamm, wo man sich überlegt: Gucke ich mir beide Speedwayrennen an – oder entscheide ich mich für eines?
Red Bull-Boss Horner bringt zusätzliche Schärfe in die Debatte. Er droht mit Entlassung von 80 bis 100 Mitarbeitern. Dabei zeigen sich gerade Formel 1-Teams als gute Arbeitgeber: In der Kurzarbeitzeit während der Lungenseuche haben sie die Bezüge, die der Staat gibt, so weit aufgestockt, dass alle Mitarbeiter das volle Lohn und Gehalt kriegten. Und McLaren geht von sich aus schon mit einer außerordentlichen Lohnrunde auf die Inflation vom Krieg ein.
Einer Aufweichung der Budgetobergrenze stehen zwei Faktoren im Weg: In den Regeln ist ein Stichtag eingezogen, an dem die Inflation über die Dreiprozenthürde springen muss. An diesem Septembertag lag sie allerdings noch bei 2,1 Prozent.
Und: Für einen Inflationsausgleich braucht man beinahe Einstimmigkeit unter den Teams. Genauer gesagt: 28 von 30 Stimmen im Sportausschuss. Drei Teams sind derzeit dagegen, weil sie ihre Grenzen einhalten.
Schwenkt nur ein Team seine Meinung um, dann kann die Aufweichung doch noch kommen. So kann Mick Schumacher zum Zünglein an der Waage werden. Wenn der Sohn des siebenfachen Weltmeisters weiterhin so viel kaputt macht wie bei seinen bisherigen Unfällen, dann geht auch seinem Arbeitgeber Haas irgendwann die Luft in der Jahresplanung bis zum Höchstetat aus. Und dann müssen die Amerikaner ihre ablehnende Haltung überdenken. Sie wären jenes Team, welches das Ruder für die ganze Königsklasse rumreißen könnte.