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22.07.2022

Irrläufer Mistral


Die Formel 1 ächzt auch unter der Hitze. Und die enormen Temperaturen in diesem Glutsommer spielen bei der Technik und damit dem Kräfteverhältnis beim Großen Preis von Frankreich eine entscheidende Rolle. Denn sowohl Ferrari als auch Red Bull riskierten zuletzt bei der Entlüftung der Motorabwärme viel, um Performance zu gewinnen.

Beim Honda-Motor im Heck des Red Bull sitzt der Wärmetauscher hinten obendrauf. Die heiße Luft von diesem Wärmetauscher lässt man über ein Loch unter dem hinteren Fortsatz der Finne auf der Motorhaube entweichen. Wenn man dieses Löchlein stopfen kann, verhindert man einen störenden Luftzug bei der Anströmung des Heckflügels. Red Bull hat genau deswegen eine zweite Version der Motorabdeckung entworfen, ohne dieses Loch: Mit deren Einsatz wollen sie den Nachteil bei der Traktion, also der Bodenhaftung beim Rausbeschleunigen aus den Kurven, eliminieren.

Die geschlossene Variante sorgt allerdings für Hitzestaus unter der Haube, denn heiße Luft steigt immer nach oben – und es bedarf einer besonderen integrierten Sogwirkung unter der Motorhaube, um die Luft vom Wärmetauscher untenrum mit dem normalen Kühlerluftstrom absaugen zu kommen. Bei der Gluthitze in den Bergen oberhalb von Marseille kann man sich solch’ ein Wagnisse eigentlich nicht leisten.

Ebenso wenig wie Ferrari das Seinige. Die Italiener haben sich angewöhnt, die Kühllamellen auf der Motorhaube zu schließen – und die Luft aus den Seitenkästen so nur noch seitlich über die dort liegenden Kiemen, aber nicht über die oben befindlichen Lamellen zu entlüften. Auch mit dieser alternativen Motorhaube möchte Ferrari den Luftstrom zum Heckflügel beruhigen – und so den Nutzen aus jener neuen Flügelkonstruktion maximieren, die bei geöffnetem DRS-Schlitz weniger Luftwiderstand provoziert als der Vorgängerspoiler.

Doch spätestens seit dem Feueralarm bei Carlos Sainz jr. in Österreich ist klar: Der Ferrari-Motor ist nicht nur latent unzuverlässig, sondern auch leicht entflammbar, wenn die Hitze sich zu sehr unter der Haube staut.

Und, nicht vergessen: Die Red Bull hatten zu Saisonbeginn des öfteren mit Problemen bei der Benzinförderung zu kämpfen, weil die Hauptpumpen zu heiß liefen und den Tank nicht mehr ganz leer schlürften.

Die Freien Trainings am Freitag dienten also mehr als bei vielen anderen Grands Prix einem direkten Vergleichstest zwischen den beiden Motorhaubenvarianten – sowohl bei Ferrari als auch bei Red Bull. Natürlich sammelt jedes Team Millionen von Daten über die Temperaturen und Drücke im, am, neben und über dem Motor – aber dennoch sind solche Extrembedingungen wie sie in Le Castellet herrschen immer eine besondere Fehlerquelle. Denn die tatsächlichen Witterungsbedingungen oben auf den Bergen werden durch den Mistral teils kaschiert – jene leichte bis steife Brise, die immer vom Mittelmeer rüberweht und die gefühlte Temperatur auch an diesem Wochenende um mindestens sieben Grad niedriger wirken lässt als die tatsächliche Hitze.

Ferrari ist berüchtigt dafür, sich bei solchen irreführenden Bedingungen aufs Glatteis führen zu lassen – weil die Italiener im Zweifel mehr aus dem Bauch heraus und weniger fakten- und datenbasiert entscheiden als die methodischen Engländer bei Red Bull. Deswegen ist die Gefahr eines neuerlichen Fehlgriffs für Charles Leclerc deutlich höher als für den sicheren WM-Spitzenreiter Max Verstappen.

Zumal Le Castellet wieder eine jener Strecken ist, auf denen Ferrari mehr riskieren muss. Denn anders als in Montréal, wo der Rote das schnellste Auto war, ist in Südfrankreich nicht das Heck mit maximaler Traktion das alles entscheidende Element – sondern eine stabile Front, auf die man sich beim Fahren in die Kurven rein mit voller Wucht drauflehnen kann, ohne dass sich ein Untersteuern einstellt oder dass die Reifen nach einigen Runden in die Knie gehen. Und an der Vorderachse ist der Red Bull dem Ferrari immer noch überlegen.

Die Ausgangslage vor dem Hochrisikorennen in der Hitze am Mittelmeer erinnert an die Schlussphase des 24-Stundenrennens auf dem Nürburgring: Damals hatte das Phoenix-Team von Ernst Moser sich das ganze Rennen taktisch so eingeteilt, dass man schon früh eine länger draußen geblieben war als das Getspeed-Team. Das ermöglichte es den Phoenix-Ingenieuren und -Strategen, bei jedem Boxenstopp im Finale genau zu gucken, was Getspeed machte – und darauf in aller Ruhe zu reagieren. In einer Phase, in der Regen von unterschiedlicher Intensität über die Eifel zog, war exakt das der Schlüssel zu einer letztlich unaufgeregten Siegfahrt: Phoenix wartete diverse Male ab, welche Reifen Getspeed wählte – Slicks oder mit Profil – und schaute dann eine ganze Runde lang, wie sich die Zeiten entwickelten. Erst dann brauchte die Audi-Crew entscheiden, welche Reifen die geeigneteren waren.

Red Bull befindet sich gerade in einer ähnlich komfortablen Situation, wie sie nur ein Gejagter innehaben kann. Der Jäger muss agieren, der Gejagte kann reagieren – und so im Zweifel immer auf Nummer sicher setzen. Erst recht dann, wenn der eigene Wagen dem des Jägers ohnehin um einen Ticken überlegen ist.

Wenn Ferrari in Le Castellet trotzdem gewinnt, dann haben die Roten ein mittleres Wunder vollbracht – und Red Bull dann auch unmittelbar dazu gezwungen, den eigenen Entwicklungsfahrplan für den Sommer neu zu definieren. Denn es wäre dann schon der zweite Sieg auf einer Red Bull-Strecke nacheinander. Und vielleicht eine Trendwende in der Hackordnung.


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