21.10.2022
Daniel Ricciardo hat den Spuk durchschaut. Der Australier, der zum Jahresende bei McLaren vor die Tür gesetzt wird, reitet auf einem Westernpony ins Fahrerlager von Austin ein. Der Zossen trägt ordnungsgemäß jenes Stück Plastik im erweiterten Kreditkartenformat um den Hals, das die Zugangsberechtigung ins Allerheiligste der Königsklasse darstellt – das sonst hermetisch abgeriegelte Fahrerlager.
Austin steht als Musterbeispiel. Die Formel 1 soll amerikanischer werden – weil die immer noch recht neuen Herren, die auf Bernie Ecclestone als alleinigen Zaren folgten, samt ihrer Firma aus den Staaten stammen. Das sorgt dafür, dass sich die Werte des Grand Prix-Sports verschieben. Unter Ecclestone galt das Gesetz der Verknappung, jetzt regnet es im schlaraffenlandähnlichen Überfluss aus dem Füllhorn der Formel 1.
Ecclestone wollte den Sport elitär halten und bei Fans, vor allem aber Wirtschaftsbossen eine Gier, ein regelrechtes Verlangen danach schüren, irgendwie dazugehören zu dürfen. Doch dazugehören konnte nur, wer viel Geld ausgab: als Sponsor auf den Wagen der Teams, als Serienwerbepartner oder als VIP-Kartenkäufer für den elitären Paddock Club. Ein Ticket für das Rundumsorglospaket kostete gern mal mehr als 4.000 Euro.
Wir Journalisten haben gern mal gespottet, wenn wir einen Fahrer oder Teamchef unten im Fahrerlager nicht fanden, der sei wahrscheinlich im Paddock Club beim Champagnersuchen ins Hummerbecken gefallen.
Den noblen VIP-Bereich gibt es immer noch. Aber die neuen Bosse aus den USA setzen auf Einbindung und Öffnung. Früher war es unter Strafandrohung verboten, Handyvideos in Sozialen Netzwerken zu teilen – weil die teuren Fernsehverträge jegliche Form von Bewegtbildern exklusiv den Sendern zuteilten. Nur: Als diese Kontrakte ausgehandelt wurden, gab’s noch kein Social Media. Und als das Internet aufkam, fand Ecclestone, das sei Teufelszeug; über lange Jahre hinweg erhielten Blogger und Betreiber respektive Schreiber von Webseiten, hinter denen kein Printobjekt stand, nicht mal eine Presseakkreditierung.
Das Alter und sein Konservatismus hat Ecclestone den Blick in die Zukunft vernagelt. Letztlich ist er genau daran gescheitert. Seine Nachfolger gehen völlig andere Wege. Und überspannen dabei zuweilen den Bogen. Wenn bei der Fahrervorstellung mehr Geschrei und Show herrschen als im Ring unmittelbar vor einem Boxkampf – dann gehen nicht nur Motorsportpuristen auf die Barrikaden. Mit überkandidelten Aktionen verscheuchen die neuen Herren viele alteingessene Fans – und hoffen, das neue nachkommen.
Die sollen sich aus der Gemeinde der Internetuser rekrutieren. Drum die Fixierung auf eine Reality Doku-Serie bei einem großen Streamingdienst, die in manchen Episoden an die Dokusoap aus dem Haus der Familie von Ozzy und Sharon Osbourne erinnert. Der Engländer wurde aufgrund der Serie Kult – aber wie viele der Einschaltenden hatten vorher gewusst, dass er Black Sabbath-Sänger war, sein eigenes Soloprojekt aufgelegt hat, dabei den legendären Gitarristen Randy Rhoads bei einem Flugzeugabsturz verloren hat? Nur wenige wahrscheiniich – und den neuen Fans, die durch die Serie kamen, war diese Vita völlig wumpe.
Mit der Formel 1-Streaminggemeinde ist es genauso. Die Geschichte der Königsklasse interessiert sie nicht, sie sind auf schnelle Schau und Unterhaltung aus – verstehen dabei aber das Wesen des Motorsports oft nicht. Sie meinen, Rennfahren sei einfach, weil sie auch schon mal mit über 200 auf einer geraden Autobahn gefahren sind – kann doch jeder, wenn er das entsprechende Vehikel zur Hand hat. Man merkt das an den Diskussionen auf den digitalen Stammtischen im Internet nach den Rennen, die meist meilenweit an den Themen vorbeigehen.
Motorsport – nicht nur Formel 1 – ist mehr. Es geht darum, mit einem Auto an der Grenze der Bodenhaftung durch die Kurven zu kommen; davor spät zu bremsen, um viel Tempo mitzunehmen, danach früh wieder aufs Gas, um den einfachsten Teil der Fahrerei möglichst schnell zu meistern: die Gerade. Geradeausfahren kann jeder. In den Kurven trennt sich die Spreu vom Weizen. Man kann das selbst ausprobieren, wenn man sich mal mit Schwung in das Ohr einer Autobahnausfahrt wirft – die Unterschiede, wie schnell man da durchkommen kann, und das Gefühl, wenn man merkt, dass der Wagen über die Vorderachse schiebt, also untersteuert, weil man zu schnell war: Das ist der Grundkurs in Sachen echtes Fahrkönnen.
Auch wenn Rennfahrer einen dann noch mal einhändig locker abhängen.
Die neuen Machthaber aus den USA neigen dazu, den Motorsport zu trivialisieren. Und ihn gleichzeitig mit enorm vielen Rennen zu einer Art Massenware zu machen. Ein Grand Prix ist heutzutage nichts Besonderes mehr, auf das man sich als Zuschauer freut; alle 14 Tage einer, das war was früher. Heute ist es beinahe schon wie mit dem Fußball: Irgendwas ist immer.
Vielleicht war eine gewisse Verknappung doch gar nicht so schlecht, um einer drohenden Übersättigung vorzubeugen. Denn schon jetzt merkt man: Der Sport ist dermaßen teuer geworden, dass Werbepartner eher davor zurückschrecken, sich zu engagieren. Und dieser Trend wird sich in der aufziehenden Rezession noch verstärken.