+++ 2024-08-29 19:14 : Blog – warum will niemand Mick Schumacher? +++ 2024-08-18 11:14 : Blog – der unsinnigste Vergleich des Jahres +++ 2024-08-08 17:24 : Podcast – Erinnerungen an Speedwaystar Tommy Dunker. Interview von Norbert Ockenga mit Weggefährte und Rivale André Pollehn +++
BACK

30.06.2022

Schnell ist nicht gleich schnell


Die Zahlen lügen nicht. 90 zu 22 – das ist die Punkteausbeute von Max Verstappen im Vergleich zu Charles Leclerc aus den vergangenen vier Rennen. Die Konsequenz daraus ist eindeutig: Verstappen hat inzwischen das Zepter in der WM so fest im Griff, dass er sich sogar Nuller leisten kann – und immer noch vorn bleibt. Während Leclerc auf Gedeih und Verderb auf Angriff fahren muss – und das geht nur, wenn der Monegasse auch fahrerisch deutlich mehr riskiert als bislang.

Zu oft fehlt ihm das letzte Häppchen Aggressivität, das einem Verstappen oder auch einem Lewis Hamilton innewohnt. Wo die beiden gnadenlos reinhalten, zieht Leclerc bislang eher zurück – um an die sicheren Punkte zu denken statt Gefahr zu laufen, punktelos auszutrudeln, weil sein Gegner im Zweikampf nicht nachgegeben hat. Einen solchen Lapsus, als er zu viel riskierte, hat er dieses Jahr schon mit einem Nuller bezahlt. Das hat ihm die defensiv-intelligente Fahrweise eines Alain Prost aus den Achtzigern und frühen Neunzigern nur noch mehr ins Lastenheft geschrieben.

Doch ab sofort kommt der Ferrari-Pilot mit dieser Denke nicht weiter. Er muss Verstappen schlagen – koste es, was es wolle. Sonst kann er dem abfahrenden WM-Zug nur noch winkend hinterherschauen.

Beim Rennen in Montréal hat Leclercs Teamkollege vor allem im zweiten Törn gezeigt: Der Ferrari ist das schnellere Auto im Vergleich zum Red Bull. Die Nuance hat nicht gelangt, um Carlito eine echte Angriffsmöglichkeit zu eröffnen. Doch die Tendenz ist klar: Ferrari ist nicht unterlegen, sondern macht nur zu wenig aus den Möglichkeiten.

Silverstone ist eine andere Bahn als jene, auf denen zuletzt gefahren wurden: schnell – so schnell, dass die Autos extrem anfällig für plötzliche Seitenwindböen werden und von denen prompt förmlich aus der Bahn gepustet werden können.

Vor allem aber braucht man auf den früheren Verbindungsstraßen zwischen den Landebahnen eines alten RAF-Luftwaffenflughafens eine stabile Vorderachse, über die man die Front des Wagens präzise und punktgenau auf eine Linie positionieren kann, auf der man viel Tempo in der Kurvenfahrt bis zum Scheitelpunkt mitnehmen kann. Die Vorderreifen gelten in Silverstone als jenes Element, das zur größten Schwachstelle für die Leistungsfähigkeit der Gesamtkonstruktion werden können – während es etwa in Montréal und Baku die Hinterreifen waren, denn dort brauchte man vor allem eine stabile Hinterachse, auf die man sich lehnen kann, um möglichst viel Traktion für eine frühe Beschleunigung aus schnellen Ecken zu generieren.

Schnell ist also nicht gleich schnell, wenn es um die Charakteristik von Rennstrecken und deren Layouts geht.

Silverstone belohnt – mehr als jede andere Piste – die vielzitierte aerodynamische Effizienz. Also die Möglichkeit, ein Auto mit möglichst wenig Luftwiderstand hinzustellen, ohne dass dessen insgesamt erzielter Abtrieb darunter leidet. Und gerade da hat Ferrari in diesem Jahr schwer auf Red Bull, dem bisherigen Platzhirsch in genau dieser Disziplin, aufgeholt.

In England lohnt sich der Blick aufs Untergeschoss der Heckflügel. Riskiert Ferrari, den sogenannten „Beam Wing“ im gleichen Ausmaß zurückzustutzen wie Red Bull?

Dieser Beam Wing spannt sich wie der Flügelschlag einer Möwe unten, zwischen den Hinterrädern, vom Getriebe respektive dem daraus nach hinten rauswachsenden Heckaufprallschutz übers Diffusordach zu den Außenblättern des Heckflügels. Red Bull hatte die Wölbung bislang mit einem Doppeldecker-Flügel versehen – und so dafür gesorgt, dass auch der Beam Wing wie ein Minidiffusor mit sich beschleunigenden Luftmassen zwischen den beiden Wölbungen funktioniert. Doch im Laufe des Sommers opferten die Weltmeister die oberste Krümmung zugunsten von weniger Luftwiderstand.

Kriegt Ferrari einen ähnlich effizienten einsamen Möwenschlagflügel hin wie Red Bull? Dann dürfte im Zusammenspiel mit einem neuen oberen Hauptblatt des Heckspoilers, der bei aufgeklapptem DRS-Spalt mehr Luft durchlässt und in der Form eines liegenden Schießbogens daherkommt, ein großes Manko der Roten passé sein: die mangelnde Überholfähigkeit.

Sainz fuhr in Montréal, als er sich am führenden Red Bull von Verstappen aufarbeitete, noch den alten Heckflügel – ohne das geschwungene Hauptblatt. Der provoziert mehr Luftwiderstand, wird aber für Silverstone für beide Fahrer zugunsten der windschnittigeren Variante aussortiert. Man hat die neue Form zuletzt in Mugello getestet.

Die Gretchenfrage ist nun: Hat man dabei einen Weg gefunden, den Beam Wing auf nur einen Möwenflügelschlag zu reduzieren – oder muss man weiterhin mit einer Doppelstruktur zwischen den Achsen fahren? Nur die Monolösung sorgt dafür, dass die Ferrari beim Topspeed und beim Beschleunigungsvermögen auf Augenhöhe mit den Red Bull sind – und nur dann kann Leclerc mit einer aggressiveren Fahrweise Verstappen den Fehdehandschuh hinwerfen.

Einen Vorteil hat der Monegasse gerade auf einer Powerstrecke wie Silverstone: ein ganz frisches Aggregat. Die Motor- und Hybrideinheit ist gerade erst in Montréal gewechselt worden. Ferrari hat dafür in Kanada Strafen in Kauf genommen, dabei strategisch gedacht – um in Silverstone dasjenige Auto zu haben, das den frischesten und damit leistungsfähigsten Motor an den Start bringt.


Teile diesen Beitrag

Das könnte auch interessant sein:

  • 01.11.2024

    Die Kunst des Überholens

    Der Spruch begleitet jeden Motorsportler schon, seit er sich mit dem Sport befasst: „Die Kurve gehört mir“. Oder wahlweise auch irgendjemanden mit Namen, je nachdem, wer gerade der…
  • 25.10.2024

    Weichspüler statt Sportler

    Reisen nach Mexiko haben immer einen gewissen Abenteuerfaktor. Das liegt an Montezumas Rache. So heißt – zumindest in Motorsportkreisen schon seit den Achtzigern – eine typische Du…
  • 02.10.2024

    Auf nach Wasserburg

    Oldtimertreffen können zuweilen etwas merkwürdige Veranstaltungen sein, zumindest für echte Racer: Ältere Herrschaften stehen mit ebenso alten Autos beisammen, unterhalten sich ode…
  • 18.09.2024

    Der Oscar geht an…

    Jetzt macht die Formel 1 richtig Spaß. Denn ab jetzt muss jeder Schuss sitzen. Lando Norris hat noch eine reelle Chance, Weltmeister zu werden. Aber nur, wenn weder er noch McLaren…
  • 13.09.2024

    Max und Mojo

    Am Ende stellte es zwar keine Überraschung mehr da. Aber ein Kracher ist es dennoch: Adrian Newey, das derzeit größte Genie unter den Formel 1-Konstrukteuren, dockt bei Aston Marti…
  • 08.09.2024

    Kartoffel-Held

    Norick Blödorn gilt als das deutsche Toptalent im Speedway schlechthin. Der gerade mal 19-Jährige aus der Nähe von Kiel bestreitet ab dieser Woche mit seinem englischen Ligaverein,…
  • 07.09.2024

    Nippel, Zakspeed und noch viel mehr

    Hallo lieber PITWALK-Freund, wir sind schon fast wieder fertig mit der nächsten Ausgabe von PITWALK. Die Kollegen sind dabei, den 180 Seiten den letzten Feinschliff zu verpassen, …
  • 29.08.2024

    Niemand will Mick

    Der Anruf endet in einem murmelnden Ächzen. Christopher Mies, einer der besten deutschen GT3-Sportwagenpiloten überhaupt und momentan bei Ford in einem der Mustang für die nordamer…
  • 21.08.2024

    Ist Handball gleich Fußball?

    Manche Fässer hätte man am besten gar nicht erst aufgemacht. Kurz vor Ende der Formel 1-Sommerpause lässt sich Kyle Larson, ein 32-jähriger US-Rennfahrer aus Kalifornien, mit den W…
  • 31.07.2024

    Der Wonderboy ist tot

    Es ist genau die Nachricht, die alle Hoffnung zunichte macht. Tommy Dunker lebt nicht mehr. Der Schleswig-Holsteiner verstarb bereits am 4. Juli. Doch die Familie hielt die Todesna…
  • 28.07.2024

    Orange is the New Depp

    Die Flinders Street Station ist einer der wichtigsten Knotenpunkte im ÖPNV von Melbourne. Und an einer ihrer Ecke steht ein kleiner Lebensmittelladen, grad so, wie man ihn bis vor …
  • 26.07.2024

    Flutlicht-Spiele

    Speedway zieht seit ein paar Monaten immer mehr PITWALK-Leser und PITCAST-Hörer in seinen Bann. Nicht zuletzt, seit dieser spektakuläre Motorradsport regelmäßig Platz in den 180 Se…
2024 – BILD-PUNKTE LAREUS.MEDIA