11.01.2022
Der Jojo-Effekt ist zurück. Weil die Rallye Dakar in der zweiten Woche durch offene Wüsten und deutlich mehr Off-Piste führt als in ihrer ersten Halbzeit, kehrt jeder Fahrstuhleffekt zurück, der den Marathon bei den Motorrädern auch im vergangenen Jahr geprägt hat: Jeder, der auf der einen Etappe in der Tageswertung vorne rein fährt, muss am Folgetag früh in die nächste Sonderprüfung starten.
Und jeder, der eine Prüfung in einer weitgehend unberührten Wüstenlandschaft aufmacht, hinterlässt Spuren. An denen können sich all' jene orientieren, die eine spätere Startposition haben. Das senkt nicht nur deren Risiko, sich zu verfahren – die Hintermänner können auch immer wieder Kurven schneiden und so die eigenen Wege verkürzen. Zeitgewinn garantiert.
Also verliert der Vortagessieger auf der jeweils aktuellen Etappe stets wieder seine gute Platzierung im Gesamtklassement – kann sie sich aber am Tag drauf, wenn er selbst wieder in den Genuss einer späteren Startzuteilung kommt, entsprechend auch wieder nach vorn arbeiten.
Diese Dramaturgie ist im Marathonrallyesport nicht neu.
Im vergangenen Jahr aber nahm das Auf-und-nieder-immer-wieder drastischere Züge an als bei den vorherigen Dakar-Rallyes in Südamerika. Selbst Zeitverluste von mehr als 20 Minuten konnte man da an manchen Tagen verknusen und wieder wettmachen.
So wird es ab sofort auch bei dieser Dakar sein. Wobei sich in der ersten Woche, im Vorspiel, zwei Grüppchen zusammengefunden haben: Spitzenreiter Sam Sunderland, sein direkter Verfolger Matthias Walkner und der Chilene Pablo Quintanilla sind im selben Schwung und Rhythmus unterwegs, Kevin Benavides Joan Barreda und Adrian van Beveren bilden die andere Gruppe. Wobei van Beveren noch ein bisschen aus der Sequenz ist. Je nach Tag und Verlauf, findet sich mal ein Fahrer aus Rudel A und mal einer aus Kohorte B ganz vorn, und die anderen aus demselben Schisslaweng rutschen mit rauf oder rauschen mit runter.
Auf Platz 7 lauert Lorenzo Santolino mit einer anderen Strategie: Er fährt nicht so schnell wie das Sextett vor ihm, baut auf Konstanz und darauf, dass ihn die geringe Fehlerquote über die Langstrecke hinweg nach vorn spült.
Jeder aus dem flotten Sechser hat seine eigenen Qualitäten. Walkner etwa gilt als penibler Navigator, der auch dann streng auf sein Roadbook achtet, wenn sich vor ihm reichlich Spuren finden. Barreda ist das genaue Gegenteil: Er fährt an Tagen, an denen Andere aufmachen müssen, denen quasi blind hinterher, achtet nur aufs Gelände, um möglichst schnell fahren zu können – und schaut dabei kaum mehr auf die bunten Hieroglyphen, die vor ihm auf dem Navigationaufbau auf dem Lenker vorgespult werden. So macht er an Tagen, wo er spät startet, häufig am meisten Zeit auf die Vorderleute gut – mehr als alle Anderen aus den Gruppen. Allerdings ist Barreda auch jederzeit ein Sturzkandidat, laboriert jetzt schon tagelang an einem angeknacksten Schlüsselbein.
Dazu kommt: Das Kräfteverhältnis hat sich gegenüber den Vorjahren auf den Kopf gestellt. KTM hat eine neue Maschine gebaut, deren genaue Technik in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift sehr genau und in allen Hintergründen entblättert wird: https://shop.pitwalk.de/magazin/102/ausgabe-64?c=6
Diese neue 450 Rally ist, wenn man die Abstimmung genau trifft, um eine Nuance schneller als die Honda. ZIemlich genau um jene Winzigkeit, um welche die Honda in den vergangenen Jahren vor der alten KTM mit dem Gitterrohrrahmen lag. KTM und die Schwestermarke Gas Gas können jetzt das Tempo vorgeben und die Honda-Verfolger Quintanilla und Barreda zum Handeln zwingen, ihnen einen hohen Speed mit viel Risiko aufzwingen.
Deswegen sind Sunderland und Walkner die großen Favoriten in diesem Jojo-Spiel, das die Motorradklasse seit Montag zur spannendsten Kategorie der gesamten Rallye Dakar 2022 macht.