24.04.2022
Timo Gottschalk musste sich sehr wundern. Und auch ein bisschen lachen. Als der extrem erfahrene Beifahrer aus dem Marathonrallyesport seine erste Rallye Dakar als Navigator von Carlos Sainz bestritt, da wurde ihm schlagartig klar, was für ein Vulkan da neben im brodelt. „Wenn Carlos das Gefühl hat, er sei über eine Düne nicht schnell genug rübergefahren“, grinst Gottschalk, der aus Rheinsberg im Ruppiner Seenland stammt, „dann ärgert er sich 10 Minuten später immer noch darüber.“
Genau solche emotionalen Wallungen haben „El Matador“, den feurigen Madrilenen, schon zu Zeiten der Rallye-WM ausgezeichnet. Und in den Marathonrallyesport, in dem deutlich mehr Langmut gefordert ist, hat Sainz sein ungestümes Wesen gleich mit importiert. Mit dem Resultat, dass er zwar auch mit knapp 60 noch zu den zwei absolut schnellsten Fahrern in der Wüste gehört – aber immer auch ein Hochrisikopilot ist. Der Abflug fährt immer mit.
Carlos Sainz hat einen Sohn, der ihm in der breiten Öffentlichkeit gerade den Rang abräumt. Carlos Sainz jr., eigentlich als „Carlito“ bekannt, ist berühmter als der Herr Papa. Denn während der Rallyesport nur eine Nische besetzt, die ausschließlich von absoluten Motorsport-Connaisseuren geschätzt wird, fährt Junior für das berühmteste Team der Welt: Ferrari-Formel 1. Und dort hat er seinen Kontrakt gerade bis Ende 2024 verlängert bekommen.
Sainz jr. ist von seinem Vater in eine Rundstreckenkarriere gedrängt worden. Allerdings legte er anfangs die gleichen Erbanlagen an den Tag wie der Herr Papa: Auf jener Hallenkartbahn in Madrid, die Sainz gehört, wollte der Kleine bis ins Konfirmandenalter lieber Driften und Donut drehen, aber keinen sauberen Strich auf der Ideallinie üben. Sodass Vater Carlos schon fürchtete: Aus dem wird nie ein guter Rennfahrer. Doch irgendwann hat der Junior die Kurve gekriegt, auch mithilfe eines Mentaltrainers, und sich auf dem klassischen Karriereweg in die Formel 1 empor gearbeitet.
Es darf erstaunen, wie systematisch der Latino arbeitet – wenn man seinen direkten Vorfahren kennt. In fast allen Rennfahrern, die als Söhne großer Namen in die Königsklasse gekommen sind, findet man die Väter wieder: Jacques Villeneuve war genau so ein furchtloser und gefahrverachtender Draufgänger wie der 1982 in Zolder tödlich verunglückte Gilles; Damon Hill konnte ein Team genauso zielstrebig und gleichzeitig einfühlsam fühlen wie Graham; Nico Rosberg legte ein genauso großes Kämpferherz an den Tag wie Keke; Mick Schumacher zeigt die gleiche Analytik und Nüchternheit, aber auch übertriebene Diplomatie wie Michael.
Nur Sainz ist so ganz anders als sein Vater. Das schreit mal nach einer großen Personality Story in unserer Zeitschrift PITWALK. Vor allem aber muss es Mick Schumacher fuchsen. Denn aus dem Underdog, der nur Schumachers Sitz bei Ferrari warm hält, bis der Deutsche sich seinen Feinschliff beim Kundenteam Haas geholt hat, ist plötzlich ein echter Konkurrent erwachsen.
Ist Mick Schumacher nicht so gut, wie die Förderer und Ausbilder der Ferrari-Akademie das erwartet hatten? Oder ist Carlos Sainz so viel besser als gedacht?
Beides trifft zu. Schumacher hat in jeder Serie stets ein Lehrjahr vor seinem Herrenjahr gebraucht – und sich in diesem Herrenjahr dann so manches Mal, notabene in der Formel 3, sogar erst spät in der Saison auf ein konstant hohes Niveau steigern können. Ein Lehrjahr gesteht man jedem Formel 1-Novizen zu. Aber eigentlich nur zur Not. Denn echte Überflieger fallen gleich auf. Das ist Mick Schumacher nicht gelungen. Und dass ausgerechnet der eigentlich schon ausgemusterte Kevin Magnussen, der ganz kurzfristig von einem Peugeot-Le Mans-Programm zurück in die Formel 1 gelotst wurde, bei den ersten Rennen schneller war als Mick – das hat dem Ruf des Sohnes vom Siebenfachen nachhaltig ramponiert. Inzwischen zweifeln viele hinter vorgehaltener Hand an, dass Mick so gut werden könne wie Vater Michael. Zwar habe er das Zeug zu einem guten Formel 1-Rennfahrer, das schon – aber ein echter Star, der auch ein Team zum Weltmeister machen kann, werde er wohl eher nicht.
Sainz hingegen hat im vergangenen Jahr im direkten Zeiten- und Punktevergleich zu seinem Teamkollegen Charles Leclerc viel besser abgeschnitten, dem Monegassen teilweise intern sogar den Rang abgelaufen. Und Leclerc ist immerhin derjenige, der Sebastian Vettel bei Ferrari derart vorgeführt hat, dass die Italiener Vettel nicht mehr haben wollten. Dass ausgerechnet dessen Nachfolger Sainz gleich in seinem ersten Jahr mindestens so schnell war wie Leclerc – das hat vielen in Maranello zu denken gegeben, ob die Rolle als Sitzheizung für Mick Schumacher für Sainz nicht doch eine Nummer zu klein sei.
In der Formel 1 gilt immer der alte Wahlspruch: Der eigene Teamkollege ist stets dein härtester Gegner.
Während Sainz seinen Ruf nach oben korrigierte, sauste der Kurs von Schumacher vor genau diesem Hintergrund in den Keller wie die Aktie von Netflix diese Woche. Für Schumacher steht das Jahr jetzt nur noch im Zeichen einer Kurskorrektur. Er muss sich dringend neue Karrierekorridore erschließen. Denn Ferrari hat über Jahre hinweg eine homogene Fahrerpaarung, von der jeder den anderen schlagen kann – und je nach Saisonverlauf auch jeder imstande ist, aus eigener Kraft und bei passender Technik den WM-Titel zu gewinnen. Schumacher spielt in den Planungen von Ferrari keine Rolle mehr.